DFG-Projekt: Jugendbewegungen und der Wandel des Politischen

Seit Mitte der 2000er Jahre kann eine internationale Konjunktur des Protests beobachtet werden, die sich neuer Formen des Politischen bedient. Gerade in den Gesellschaften des globalen Südens sind Jugendbewegungen die wichtigsten Protagonisten dieses Protests, der sich oft auf die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre bezieht, bisweilen aber auch gar keine dezidierten eigenen Forderungen formuliert, sondern die Pluralität zivilgesellschaftlicher Akteure – etwa durch die Besetzung und Re-Definition öffentlicher Räume – offen und spontan sichtbar macht. Besonders wirkungsvoll werden diese neuen Protestformen durch die rapide gewachsene Verfügbarkeit sozialer Medien, da diese neuen Formen der (auch globalen) Vernetzung das kurzfristig konzentrierte kollektive Handeln ermöglichen. In einigen Ländern des Südens beziehen sich organisierte Jugendbewegungen auf politische und pietistische Formen des Islams, um gegen bestehende Ordnungen aufzubegehren. Gerade seine stärker politisch ausgerichteten Formen dienen den Jugendbewegungen als Legitimationsformen und stellen alternative Handlungsoptionen bereit.


Wie die Arabischen Aufstände gezeigt haben, lassen sich die aus dieser Konstellation entspringenden Folgen für die etablierten gesellschaftlichen Ordnungen und politischen Kulturen der jeweiligen Länder bislang kaum auf eine einheitliche Formel bringen. Dies ist auch deshalb der Fall, weil genauere Untersuchungen zu den durch den Protest der Jugend angetriebenen Transformationen weiterhin ausstehen. Dieser Leerstelle widmet sich das vorliegende Projektvorhaben, indem es die Frage stellt, auf welche Weise Jugendbewegungen die bestehenden politischen Kulturen in Senegal und Bangladesch dynamisieren und zu deren Transformation beitragen.

Fotos aus der Reihe Visage d’un Mouvement Citoyen, Fotografin Elise Fitte-Duval, Fotodokumentation der Jugendbewegung "Y'en a marre" in Dakar


Bangladesch und Senegal im transregionalen Vergleich

Zwischen Bangladesch und Senegal gibt es einige Parallelen. In beiden Ländern – insbesondere den Metropolen Dhaka und Dakar – sind Protestaktionen zu einem wichtigen Faktor für Wandlungsprozesse der politischen Kultur geworden. Beide Länder weisen eine jugendlastige demographische Struktur auf, die völlig andere politische Dynamiken freisetzt, als dies in westeuropäischen Gesellschaften der Fall ist. In Bangladesch und im Senegal sicherte lange Zeit eine durch die internationale Entwicklungszusammenarbeit gestärkte säkulare Säule der Staatlichkeit ein relativ stabiles Verhältnis zwischen politischer Ordnung und islamischer Tradition, das nun durch die verstärkte Interaktion mit (z.T. transnational vernetzten) islamistischen Akteuren und Diskursen in Frage gestellt wird. Und in beiden Ländern beobachten wir seit einiger Zeit, wie Jugendbewegungen einerseits Elemente der jeweiligen nationalen politischen Kultur aufgreifen, aber andererseits mit ihren Aspirationen, Imaginationen und Utopien auch transnationale Bezüge schaffen. Neben diesen Parallelen gibt es allerdings auch historisch begründete, markante Unterschiede zwischen den beiden Ländern, die unser Vorhaben des transregionalen Vergleichs erst aussagekräftig machen.

Das Projekt soll empirisch klären, in welcher Weise die Jugendbewegungen in den beiden Ländern Sinnbezüge zu Islam und Säkularismus sowie Traditionalität und Modernität herstellen und inwieweit sie sich an klaren Formulierungen eines Für und Gegen ausrichten. Viele gegenwärtige globale Protestbewegungen (Occupy, Nuit Debout) verweigern sich gerade derartigen binären Konstruktionen. In theoretischer Hinsicht baut das Projektvorhaben auf Erkenntnissen der Bewegungsforschung sowie der Kultursoziologie auf. Methodologisch nimmt es eine mikrosoziologische Perspektive auf das Alltagshandeln von Jugendbewegungen und ihre Protestpraktiken ein. Der Vergleich zweier Jugendbewegungen in zwei unterschiedlichen muslimisch geprägten Gesellschaften ermöglicht die Kartierung analoger und konfligierender Muster, die Formulierung kontextentlasteter Aussagen und die Identifikation allgemeiner Strukturen.

Publikationen

Sonderheft

Grimaldi, Anna/Gukelberger, Sandrine. Remembering a Tricontinental Past: Narratives and Artefacts of Global Cold War Social Movements, Bandung: Journal of the Global South, Brill (in Bearbeitung)

Artikel

Gukelberger, Sandrine/Meyer, Christian (2021). Creating space by spreading atmospheres: Protest movements from a phenomenological perspective. In: Bauer, Nina et. al. (Hrsg.): Re-figuration of Spaces and Cross‐Cultural Comparison, Journal FQS*

Buchbeiträge

Gukelberger, Sandrine/Meyer, Christian (2022, i.E.). Time, Affect, Knowledge. The Embodied Institution of Social Protest Movements. In: Institutionality and the Making of Political Concerns – Empirical Analyses of Discursivity and Materiality, Porsché, Y., R. Scholz und J. N. Singh (Hrsg.), London: Palgrave Macmillan

Gukelberger, Sandrine/Meyer, Christian (2021).  Postkoloniale Theorie und soziale Gedächtnisforschung. In: Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung, Berek, M. et. al. (Hrsg.), Wiesbaden: Springer Verlag

Symposium, Workshop, Discussant & Vorträge

Online Symposium. Grimaldi, Anna/Gukelberger, Sandrine. 9.04.2022. Remembering a Tricontinental Past

Online Workshop. Gukelberger, Sandrine/Hosna, Shewly. 11.2021. Youth movements and political change, „Global Inequalities and Human Rights”, International Fulda Autumn School

Discussant Gukelberger, Sandrine. 05.2021. Discussant, Online Workshop Transnational Political Movements and the Imaginaries of the Homeland, Max Weber Kolleg, Universität Erfurt

Vorträge  

Gukelberger, Sandrine. 06.2021. „How youth remember anticolonial resistance“, International Development Institute, Kings College London

Gukelberger, Sandrine. 02.2020. „Dekolonialer Aktivismus und Nachhaltigkeit”, Vorlesungsreihe Globalization, Development and Sustainability, Hochschule Fulda

Gukelberger, Sandrine. 10.2019. „Protest practices and temporal orientations”, Konferenz „Movement, Protest, Activism. Interdisciplinary Approaches to an Elusive Phenomenon”, Universität Konstanz

Gukelberger, Sandrine. 09.2019. „Recht auf Stadt im globalen Süden”, Keynote, 7. Studentischer Soziologiekongress, Ruhr-Universität Bochum

Feldforschung

Videogestützte ethnographische Forschungen durchgeführt von Sandrine Gukelberger:

09.2019, 11.2019 // Paris (1 Woche) 

08.2019 – 09.2019 // Dakar, Senegal (6 Wochen)

06.2019 // Dakar, Senegal (3 Wochen)

DFG-Kooperationspartnerinnen