Über das Projekt

Beschreibung

“Rêver, c’est le bonheur, attendre, c’est la vie”, wusste schon Victor Hugo. Warten ist Folge der conditio humana und somit allgegenwärtiger Bestandteil unseres täglichen Lebens. Wir warten an Supermarktkassen und Bankschaltern, auf Bahnhöfen und Behörden; wir warten auf den Kellner und die Briefträgerin, auf den Urlaub und aufs Christkind. So sehr wir uns auch bemühen, Wartezeiten zu vermeiden, sind wir doch andauernd zum Warten gezwungen und müssen Mittel und Wege des Umgangs mit ihm finden.

Der Existentialismus bringt das Warten in Zusammenhang mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. „Alles Warten ist Warten auf den Tod“, formuliert Franz Werfel, während für Martin Heidegger das menschliche Dasein als „Sein zum Tode“ prinzipiell von Angst sowie folglich von Sorge bestimmt ist. Damit ist ein genereller anthropologischer Sachverhalt erfasst. Helmuth Plessner beschreibt ihn mit dem „Gesetz des utopischen Standorts“ und hält damit fest, dass der Mensch in gewisser Hinsicht in der Zukunft lebt. Für ein solches Wesen spielen Pläne und Erwartungen eine herausragende Rolle, doch steht deren Erfüllung häufig außerhalb der Macht des Einzelnen: „Mein Organismus und meine Gesellschaft erlegen mir und meiner inneren Zeit gewisse Abfolgen von Ereignissen auf, in deren Zwischenräumen ich warten muss“, erkennen Peter L. Berger und Thomas Luckmann (2004 [1967]: 29) und bestimmen Warten somit generell als eine Folge ausbleibender Synchronisierung von Zeitabläufen.

Die Soziologie kommt dort ins Spiel, wo Menschen gemeinsam warten bzw. wo das Warten von den Handlungen anderer Menschen abhängt. Als empirische Wissenschaft interessiert sie sich dafür, wie die von Berger und Luckmann so genannten „Zwischenräume“ in konkreten sozio-historischen Situationen aussehen: Wie sind sie möbliert und dekoriert, welche Ein- und Ausgänge gibt es? Wer wohnt in den Räumen und welcher Art sind die Beziehungen der Bewohner untereinander? Entsprechende Antworten sind, wie Rainer Paris erkennt, keineswegs spezieller Natur, vielmehr betreffen sie Zeit, Raum und soziale Beziehungen im Sinne ebenso allgemeiner wie grundlegender Topoi. Eine Betrachtung des Wartens gibt Aufschlüsse über soziale Wertvorstellungen, Ordnungsprinzipien sowie Machthierarchien und ist damit für zahlreiche soziologische Forschungsbereiche von Belang.

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Warten. Zur Erforschung eines sozialen Alltagsphänomens“ reagiert zum einen auf den Mangel einschlägiger Forschungsliteratur sowie zum anderen auf deren Einseitigkeit. Hat der soziologische Blick das Phänomen bislang zwar verschiedentlich gestreift, so wurde es doch nur selten in den Fokus gerückt. In letzterem Falle orientiert sich die Forschung meist einseitig an einer westlich geprägten Sichtweise, die Zeit als knappe Ressource und Warten folglich als Ressourcenverschwendung betrachtet, und ist häufig stärker an der Einhaltung sozialer Ordnung (etwa innerhalb von Warteschlangen) als an deren Entstehung interessiert. Angesichts dieses Mangels strebt das Projekt einen interkulturellen Vergleich an, um verschiedene Strategien und Deutungen des Wartens erfassen zu können. Hierbei steht der dynamische Aspekt von Warteordnungen im Vordergrund. Derart soll zur Etablierung einer allgemeinen Soziologie des Wartens beigetragen werden, wie sie von dem US-Soziologen Barry Schwartz vor bereits beinahe 40 Jahren in Aussicht gestellt wurde.

Literatur

Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (2004 [1966]): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: S. Fischer.

Heidegger, Martin (1993 [1927]): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Hugo, Victor (1909): “À mes amis L. B. et S.-B. - Les Feuilles d'automne.” In: Œuvres complètes: Les Feuilles d'automne. Les Chants du crépuscule. Les Voix intérieures. Les Rayons et les Ombres. Paris: Ollendorf, 76-79.

Paris, Rainer (2001): „Warten auf Amtsfluren.“ KZfSS 54 (4), 705-733.

Plessner, Helmuth (1981 [1928]): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Schwartz, Barry (1975): Queuing and Waiting. Studies in the Social Organization of Access and Delay. Chicago/London: Univ. of Chicago Press.

Werfel, Franz (1975 [1946]): „Theologumena“. In: Ders.: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. München: Langen – Müller.