Medizinische Süd-Süd-Kooperationen am Beispiel des kubanisch-brasilianischen Abkommens im aktuellen "Mehr-Ärzte-für-Brasilien" Programm

Seit über 50 Jahren ist Kuba einer der wichtigsten Akteure im Bereich internationaler medizinischer Kooperationen und humanitärer Hilfeleistungen, insbesondere im Globalen Süden. Die größte dieser Kooperationen unterhält das Land derzeit mit Brasilien: Knapp 11.400 Kubaner/innen waren dort im Rahmen des Gesundheitsprogramms „Mehr Ärzte für Brasilien“ im prekären öffentlichen Gesundheitssektor der städtischen und ländlichen Armutsgegenden von 2013-2016 beschäftigt. Das Projekt untersucht diese spezifische Zusammenarbeit zwischen Kuba und Brasilien als Teil aktueller Wissens- und Machtdynamiken der Globalen Gesundheit und der internationalen Zusammenarbeit. Es fokussiert dabei die involvierten lokalen Akteure. Insbesondere das medizinische Fachpersonal, seine hierarchisierten transnationalen Arbeitskontexte in staatlichen Kliniken und die stattfindenden Aushandlungen über unterschiedliche Wissensformen stehen im Fokus. Zielsetzung ist es, die Besonderheiten der medizinischen Zusammenarbeit der stark ansteigenden Süd-Süd-Kooperationen herauszuarbeiten, in denen der Gesundheitssektor einer der größten Bereiche darstellt, jedoch in der Forschungslandschaft noch immer weitestgehend unterrepräsentiert ist.

Das Forschungsprojekt beleuchtet die Dynamiken im städtischen Raum Brasiliens, wo sich auf engstem Raum die Auswirkungen der sozialen und ethnischen Ungleichheit auf die öffentliche Gesundheit und ihre Versorgungseinrichtungen zeigen. Ausgehend von ethnographischer Feldforschung in Rio de Janeiro fragt das Forschungsvorhaben nach den lokalen sozialen, kulturellen, ethnischen, politischen und moralischen Aushandlungen über medizinische Arbeit, öffentliche Gesundheit und den damit verbundenen unterschiedlichen  Wissensformen und -hierarchien in diesen transnationalen Kontexten. 

Das Projekt greift die These auf, dass Süd-Süd-Kooperationen alternative Aushandlungsräume internationaler Zusammenarbeit bereithalten. Die kubanische Hilfsmission in Brasilien, so die erste Hypothese, eröffnet hierzu demnach auf der im Projekt fokussierten Mikroebene epistemologische Aushandlungsräume, die von globalisierten biomedizinischen Wissensregimen abweichen. Wissen in medizinischen Arbeitskontexten wird in diesem Zuge nicht einfach als objektiviert und explizit faktisch verstanden, wie es ein bis heute global einflussreiches modernistisches Dispositiv vorgibt. Ohne dessen Wirkmächtigkeit in Frage zu stellen, wird stattdessen Wissen in seinen pluralen Epistemologien sowie akteurs- und lokalgebundenen Praktiken untersucht und daher als subjektiviert und in Interaktionen eingebunden verstanden. Zugleich, so geht die zweite Hypothese vor dem Hintergrund eines hier angelegten intersektionalen Untersuchungsansatz darüber hinaus, sind diese speziellen transnationalen Aushandlungsräume medizinischer Arbeit und Wissens nicht losgelöst von lokal wirkmächtigen postkolonialen Gesellschaftshierarchien, nationalen Modernitätsdiskursen und internationalen wie globalen politischen Machtgefügen.