Vom "reinigenden Effekt" einer teilnehmenden Beobachtung im Deutschen Hygiene-Museum

Als ich im Oktober 2014 nach Dresden fuhr, um mir die Ausstellung „Das Neue Deutschland – von Migration und Vielfalt" im Deutschen Hygiene Museum anzuschauen, ging ich davon aus, dass das Museum heute mit ‚Hygiene' im landläufigen Sinne nicht mehr viel zu tun hat, denn in welchem Zusammenhang könnten ‚Hygiene' und ‚Migration und Vielfalt' schon stehen? Heute denke ich, dass der Name durchaus noch Sinn ergibt, wenn man den Begriff der Hygiene nicht nur auf seine Bedeutung der Körperpflege reduziert sondern ihn umfassender auf das ‚Mensch-Sein' in einem sozialen Gefüge bezieht. In diesem Beitrag möchte ich kurz erläutern, wie ich zu diesem Schluss komme.

Den Abstecher nach Dresden unternahm ich während einer Forschungsreise im Rahmen meines Promotionsprojektes mit dem Arbeitstitel „Doing Diversity", in welchem ich Diskurse und Praktiken im Namen der Vielfalt, „Diversity" bzw. „Diversité" in Deutschland und Frankreich vergleiche. An der Konzeption der Ausstellung war auch der Konstanzer Kultur- und Literaturwissenschaftler Dr. Özkan Ezli beteiligt. Mich interessierte, wie diese Thematik museal aufgearbeitet wird, welche Medien wie eingesetzt werden und was in der Ausstellung mit Blick auf die Thematik „Vielfalt in Deutschland" vermittelt wird.

Die Ausstellung war themenschwerpunktbezogen auf mehrere Räume verteilt. Der erste Raum vermittelte zunächst einen sachlich gehaltenen Überblick zu Zahlen und Fakten bezüglich der Bevölkerungsstruktur in Deutschland, Sachsen und Dresden. Wie viele Personen nichtdeutscher Herkunft lebten vor 30 Jahren hier, wie viele heute? All das war mithilfe von dreidimensionalen Diagrammen aus bunten Bauklötzen, Spielfiguren, Spielzeugautos u.Ä. anschaulich dargestellt, als sei die Thematik durch diese Materialien besser „begreifbar" als über die übliche, zweidimensionale Darstellung. Vor dem Übergang vom ersten zum zweiten Raum ging es schließlich um das Thema „Grenze". Hier wurden ungewöhnliche Bilder der Europäischen Außengrenzen in Nordafrika gezeigt, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Eines sah aus der Ferne aus wie eine Luftaufnahme eines paradiesischen Strandes. Erst bei näherer Betrachtung erkannte ich den hohen Zaun, der bis weit ins Meer hineingebaut war.

Eine der letzten Stationen in diesem Raum war eine Videoinstallation, in der jemand beschreibt, wie viele Zäune in den beiden spanischen Exklaven Melilla und Ceuta im Norden Marokkos zu überwinden sind, wenn man von Afrika nach Europa fliehen möchte. Es handelt sich dabei um mehrere Reihen aus sechs Meter hohen Zäunen - mit messerscharfem Klingendraht bestückt – zwischen denen riesige Drahtknäuel Flüchtlingen das Überwinden der Grenze unmöglich machen sollen. Wahre Menschenfallen. Zudem ist diese festungsähnliche Anlage videoüberwacht, so dass die Wahrscheinlichkeit, alle Hindernisse zu überwinden, ohne am Ende von Grenzwachen aufgegriffen zu werden, überaus gering ist. Das Video zeigt zudem Mitschnitte von Überwachungskameras, auf denen Hunderte von Menschen zu sehen sind, die gleichzeitig versuchen, die Grenzanlage zu überwinden. Wie viele es am Ende schaffen und was mit denen passiert, die es nicht schaffen, erfuhr ich hier nicht.

Ich war schockiert über die Brutalität der Grenzbefestigung. Und irgendwie schämte ich mich auch dafür, wie bei uns in der EU mit Menschen umgegangen wird, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind.

Emotional aufgewühlt begab ich mich in Richtung Raum 2. Hierfür hatte ich einen Metall-Scanner zu passieren, wie man ihn von Flughäfen kennt. Da aber niemand da war, der mich aufforderte, Metallgegenstände vor dem Passieren des Detektors abzulegen, ertönte ein schrilles Alarmsignal, das mich zusammenzucken ließ. So kam ich mir kurz selbst wie eine Verfolgte vor, wobei ich doch eigentlich nur vom ersten in den zweiten Raum wechseln wollte – so, wie die Menschen auf dem Überwachungsvideo nur von einem Land in ein anderes wollen.

In Raum 2 angekommen fiel mein Blick auf einen Monitor, der in einer Endlosschleife Ankunftsszenarien der positiven Art zeigte: Menschen, die mit Blumen in den Händen und Lächeln im Gesicht ihre Lieben am Flughafen in Empfang nahmen; Menschen, die sich in die Arme fallen und deren Freude über die Ankunft des Gereisten allen ins Gesicht geschrieben steht. Der Kontrast zum vorher Erlebten war so groß, dass meine Augen sich mit Tränen füllten.
„Ja", dachte ich, „So möchte man empfangen werden."

Meine Reaktion war sicherlich ein Effekt, der von den Kurator_innen der Ausstellung intendiert war. Dennoch machte er mich nachdenklich. Wieso waren es nicht die grausamen Bilder vom Grenzzaun, die mir die Tränen in die Augen getrieben haben? Auch das persönliche Nacherleben des Schreckmoments beim Passieren der „Grenzkontrolle" hatte nicht diesen Effekt. Überraschenderweise brachten mich erst die Bilder vom herzlichen Empfang, den wir alle kennen, aus der Fassung. Erst durch diese Bilder wurden die Geschehnisse an der fernen Grenze mit meinem Alltag in Beziehung gesetzt. Die Wirkung der Flughafen-Szenen konnte nur aufgrund der tragödienähnlichen Dramaturgie und der Kombination mit dem Vorangegangenen so stark sein. Aber worin bestand nun der „reinigende Effekt"?

Bereits Aristoteles nahm an, dass die Tragödie, die beim Publikum Gefühle wie Schaudern und Mitleid auslöst, eine reinigende (kathartische) Wirkung hat. Die Zuschauer werden durch das Mitfühlen mit dem Dargebotenen von negativen Gefühlen befreit.

Ich fühlte mich allerdings nicht emotional „gereinigt" – eher im Gegenteil irgendwie „verunreinigt", da ich mich als EU-Bürgerin mitverantwortlich für den Umgang der EU mit Flüchtlingen vom afrikanischen Kontinent erachtete. Ich fühlte mich schuldig, wenngleich irgendwie schuldlos schuldig.
War ich denn in dieser Tragödie bloß Zuschauer oder gar tragische Figur? Denn einerseits gehörte ich zum Publikum, welches einer Inszenierung beiwohnte und mitfühlte. Andererseits handelte es sich bei dem Gezeigten eben nicht um Fiktion sondern um wahre Begebenheiten in unserer heutigen Zeit, in unserer Gesellschaft. So gesehen war ich als EU-Bürgerin auch Akteurin, eine tragische Figur, die von der Beobachterin zur Teilnehmerin wurde und der Katastrophe nichts entgegenzusetzen weiß.
Und die Hygiene? Der Museumsgründer Karl August Lingner äußerte sich 1912 zum Zweck des Museums wie folgt:

„Das Hygiene-Museum soll Stätte der Belehrung sein für die ganze Bevölkerung, in der jedermann sich durch Anschauung Kenntnisse erwerben kann, die ihn zu einer vernünftigen und gesundheitsfördernden Lebensführung befähigen." (Lingner, K.A. (1912): Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums in Dresden. Dresden. S. 5.)

Ich denke es sind genau diese Betroffenheit als Beobachterin und Teilnehmerin der ‚Tragödie' und das Verstehen der dargestellten bzw. realen Verhältnisse, die mich als Besucherin „zu einer vernünftigen und gesundheitsfördernden Lebensführung befähigen" – im Sinne der Gesundheit des Gesellschaftskörpers. Aus dem Begreifen der Problematik, welche durch die besondere Inszenierung viel eindrücklicher war als jede Nachrichtensendung im Fernsehen zum Beispiel, entstand in mir der Wunsch, als Bürgerin dieser Gesellschaft und als Mensch mit der Sache „ins Reine" zu kommen, indem ich selbst aktiv werde und mich für einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen engagiere.
Dieser reinigende Effekt begegnet mir auch in meiner Forschung, da er von vielen ‚Diversity'-Trainern als Grundlage für Einstellungsveränderungen ihrer Trainees angestrebt wird. Da geht es meist darum, zu begreifen, dass man selbst diskriminiert – auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Durch das Training soll dann idealerweise der Wunsch der Trainees entstehen, nicht mehr zu diskriminieren und gegen die eigenen Vorurteile anzukämpfen. Um dies zu erreichen, wird in Trainings ebenfalls (Erfahrungs-)Lernen mit Emotionen verknüpft, um Gelerntes emotional zu ‚verankern. Die Trainingsteilnehmer_innen sollen auf diese Weise dazu angeregt werden, über etwas nachzudenken, worüber sie noch nie nachgedacht haben oder aber, was sie schon verstanden zu haben glaubten, erneut zu hinterfragen und dadurch das Zusammenleben in der Gesellschaft zu verbessern. ‚Hygiene' im Sinne eines besseren Miteinanders, sozusagen.

Die Ausstellung ist leider beendet, aber gerne möchte ich an dieser Stelle auf den sehr lesenswerten Begleitband zur Ausstellung aufmerksam machen.

Tanja Thielemann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Ethnologie und Kulturanthropologie.